Gemeinschaftlich mit meinem Landsmanne Glöckle, der zu diesem Zwecke in Rom seit fünf Jahren mit unermüdetem Fleiße arbeitet, kündige ich durch das Gegenwärtige eine Bibliotheca Vaticana Altdeutscher Dichtungen an, deren Herausgabe ich besorgen werde. Das Unternehmen ist zunächst auf vier starke Octavbände berechnet. Einer soll alle die Dichtungen befassen, die mit dem Gothischen und Lombardischen Kreise, den Nibelungen und dem Heldenbuche in Verbindung stehen, z. B. Hug und Wolf Dietrich, den Rosengarten und Andere. Im zweyten soll der Normännische Kreis der Beschauung geöffnet werden, darunter vor Allen die Krone dieser Dichtungen, Reinold von Montalban, bekannt unter dem Namen der Heymonskinder, ein Werk in 15000 Versen, das nie genug gelobt werden kann, und die äußere Form ausgenommen, sonst in Allem würdig den Nibelungen zur Seite tritt, die Odyssee neben der Iliade; Ogier der Däne nicht eben von gleichem Range, weil das Beste überall nur einmal wird, aber doch noch aus der silbernen Traumpforte alter Heldenbegeisterung ausgegangen, während jenes wie eine glänzende Lufterscheinung aus der goldnen vorgebrochen; Malagyß der Zauberer, wenn nicht ganz, doch in erlesenen Fragmenten, endlich das der Form nach älteste und uranfänglichste von Allen, das merkwürdige Gedicht von Roland und Karl dem Großen, wovon ein Fragment sich bey Schilter findet. Alle diese liegen schon in vollständigen Abschriften zum Drucke bereit. Die andern Bände sollen in mehreren Abtheilungen alles begreifen, was mit Artus und der Tafelrunde in näherer Beziehung steht; die Bearbeitungen Altgriechischer und Lateinischer Dichtungen in ausgewählten Fragmenten, religiösen Poesien, z.B. die Apogryphen von der Geburt Mariä und dem Kinde Jesus, deren mehrere sich in Rom vorfinden, endlich vermischte kleinere Gedichte, Romanzen, Novellen, Schwänke, eine Rubrik, die bey der großen Auswahl sehr interessant ausfallen muß. So wird diese Sammlung, wenn wir etwa Tristan, Reineke Fuchs, die Minnelieder und den Lohengrin ausnehmen, die zum Theil anderwärts ihre Bearbeitung gefunden haben, das Merkwürdigste und Auserlesenste von mehr als tausend Manuscipten, die in der Vaticana sich befinden, in engem Raum umschließen.
Mit allen Ständen muß sie nach unserem Ermessen Berührungspuncte finden; der Bürger wird vielfältig in alterthümlicher Sitte seine eigenste Sinnesweise wieder erkennen, der Religiöse wird sich an der schlichten einfältigliehen Gottesfurcht, die ganz eigenthümlich die Religion dieser Zeiten ist, erbauen, und an der milden Phantasie, die wie eine ewige Lampe im stillen Dome mit immer gleichem Lichte in den geistlichen Gedichten leuchtet; die Edeln werden lebendiger als in ihren Pergamenten, wo die Ahnen Lateinisch sprechen, das Weben und Leben der Vorfahren verstehen lernen, und den geharnischten Bildern im Rittersaale Rede abgewinnen, daß sie kund geben, was ihr Herz in Leid und Lust bewegte, und ihr Blut, das jetzt nach so vielen Jalrrhunderten in andern Adern rinnt, noch einmal in freudigem Mitgefühl sich regt. Selbst die Höchsten im Staate möchten nicht ohne einige Theilnahme vorübergehen können; denn worauf ruht selbst der Stuhl der Könige anders, als auf der Liebe im Herzen des Volkes? Alle Liebe aber ist wesentlich Poesie; und gibt die Weisheit allen Dingen Maaß, und ist die Macht um das Böse abzuwehren, dann ist's jene allein, die Allem den Grund legt, und seinen Widerhalt, der lebendige Brunnquell alles Guten. Nicht aus Schwerdtesblitz fließt der Glanz des Thrones zusammen, sondern es ist die innerliche Lebenswärme im Herzen des Volkes, die ihn angeglüht, und der Nachglanz von aller glücklichen Vergangenheit, besonders in der Sagenpoesie aufbewahrt, ruht auf ihm verweilend in freudiger Lust. Denn wie der Adel des Einzelnen wesentlich an die unverloschene lebendige Erinnerung vieler Vorfahren, weit in die Jahrhunderte hinein, und ihrer Leiden und Thaten geknüpft ist, so ruht der Adel der Völker ganz eigentlich in der Sage, und auf dem, was die Poesie von längst vergangener Zeit erzählt, und der wahre Stammbaum der Nation, der ewig, und selbst wie jene heiligen Eichen durch den Winter grünt, ist ihre Sprache, und seine Blätter die Lieder, die im Mund des Volkes lebten. So sind die Germanischen Völker ein adeliches Geschlecht, in die Völkerwanderung breitet ihr Baum sein reiches Gezweige auseinander, aufwärts jeder Ast in eigenthümlicher Blüthe prangend, und abwärts läuft der Stamm der Sage weit über jene Zeit hinaus, und schlägt in Asiatische Erde seine Wurzeln.
Dieser in der Nation wieder erwachte Sinn für ihre Vergangenheit ist ähnlichen Unternehmungen, wie die Unsrige, hülfreich entgegen gekommen, die sonst an der Trostlosigkeit der Zeit nothwendig gescheitert wären; es ist zu hoffen, daß auch die Gegenwärtige ungeachtet aller Bedrängnisse eine freundliche Aufnahme finden werde. Hat nicht das Schicksal jene Schätze gerade in jenem blutigen Kriege, von dem an besonders die Geringschätzung des Alterthums begann, vor dem Untergang in den Schutz der Kirche geflüchtet, um sie jetzt, wo die langjährige Verblendung nachgelassen, wieder in ihr eigenthümliches Vaterland zurückzuführen, und wie sollten wir fürchten, daß sein Geschenk mit Kaltsinn zurückgewiesen werde? Da dem ganzen Unternehmen keinerley Art von habsüchtiger Speculation und Büchermacherey zum Grunde liegt, wie sich am Ende ausweisen muß, so wird wohl treuer und wohlmeinender Gesinnung auch freudige Theilnahme entgegengekommen, damit eine Nationalunternehmung im Gebiethe der Litteratur möglich werde, wie sie sich für Deutschland schickt, das, obgleich äußerlich getheilt, doch in gemeinschaftlicher Gesinnung seine allgemein anerkannte Einheit findet.
Koblenz im Juny 1812.
Görres